Interview zum Thema "Burnout"

"Alles geht höher, schneller, weiter. Wer möchte in einer solchen Welt schon im Abseits stehen?"

Herr Dr. Wehmeier, wie stehen Sie zu der Ansicht, Burnout sei nur eine Modediagnose?

Burnout ist keine Modediagnose. Burnout ist überhaupt keine Diagnose. Burnout ist ein Erschöpfungsprozess, an dessen Ende eine klinisch relevante Depression stehen kann. Psychische Erschöpfung kann jeden von uns treffen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Berufsgruppe. Eine Studie des Robert-Koch-Instituts aus dem Jahr 2012 zur Prävalenz von Burnout bei Erwachsenen in Deutschland zeigte, dass etwa 5 % der befragten Frauen und etwa 3 % der befragten Männer angaben, unter Burnout zu leiden. Diese Zahlen verdeutlichen auf eindrucksvolle Weise die Größe des Problems und vermitteln eine Vorstellung von dem Ausmaß der Belastung, unter der die Betroffenen stehen.

Was sind die typischen Zeichen psychischer Erschöpfung?

Das Leben der Betroffenen kann auf vielfältige Weise beeinträchtigt sein. Im beruflichen Alltag haben viele Betroffene keine Freude mehr an der Arbeit und fühlen sich meist überfordert. Einige haben das Gefühl, dass Ihnen alles zu viel wird, und reagieren gereizter als gewöhnlich. Doch auch außerhalb der Arbeit gibt es Zeichen, die auf eine psychische Erschöpfung hindeuten können. In der Regel ist es ein Gefühl der Niedergeschlagenheit und inneren Leere. Viele fühlen sich zu erschöpft, um Freizeitaktivitäten nachzugehen, und ziehen sich aus ihrem privaten Umfeld zurück. Manche haben Schlafstörungen und trinken häufiger als früher Alkohol oder nehmen Beruhigungsmittel ein. Bei manchen Betroffenen treten körperliche Symptome auf, wie Kopf- oder Rückenschmerzen.

Wie erklären Sie sich die Zunahme von psychischer Erschöpfung?

Wir leben in einer Welt des Erfolges. Erfolg scheint in der heutigen Welt zum höchsten Wert und damit zum Maßstab aller Dinge geworden zu sein – jedenfalls für viele von uns. Viele wünschen sich Anerkennung und beruflichen Erfolg. Man möchte immer mehr leisten und geht dazu womöglich bis an seine Grenzen. Alles geht höher, schneller, weiter. Wer möchte in einer solchen Welt schon im Abseits stehen? Zugleich sind unsere Handlungsspielräume größer geworden. Die verschiedenen Möglichkeiten stellen den Einzelnen unter hohen Entscheidungsdruck und damit unter zusätzlichen Stress. Unentschlossenheit und Versagensangst können die Folgen sein.

Warum sollten wir uns für Selbstmanagement interessieren?

Die Informationen, die wir laufend verarbeiten müssen, werden immer komplexer und stellen immer höhere Anforderungen an unser Denken, Fühlen und Handeln. Wir müssen in unserem beruflichen Alltag ständig auf viele unterschiedliche Anforderungen reagieren und Mittel und Wege finden, diesen gerecht zu werden. Es wird von uns erwartet, Dinge zu planen und Entscheidungen zu treffen. Hinzu kommt, dass wir uns mit Kollegen austauschen müssen, um angemessen und zielführend arbeiten zu können. Insofern ist jeder sein eigener „Manager“. Selbstmanagement ist eine Möglichkeit, selbstwirksam zu denken und zu handeln.

Wie setzt man Ihr Selbstmanagementkonzept in der Praxis um?

Wenn wir etwas verändern wollen, müssen wir uns an die eigene Nase fassen. Veränderungen beginnen bei einem selbst. Man muss nicht immer erst die Erwartungen anderer erfüllen. Wir sollten achtsam sein und unsere eigenen Bedürfnisse wahrnehmen. Ich empfehle jedem: Hinterfragen Sie die herkömmliche Definition von Erfolg. Scheitern Sie nicht an einem falschen Ideal. Sorgen Sie für sich und gehen Sie behutsam mit sich um. Das bedeutet aber auch, dass Sie Ihr Leben in die Hand nehmen und Dinge verändern.

Führen neben äußeren Faktoren auch die eigenen Ansprüche zu Überforderung?

Auf jeden Fall! Unser Denken bestimmt unsere Gefühle und umgekehrt. Situationen sind nicht von sich aus gut oder schlecht. Jeder kann für sich selbst bestimmen, wie er eine Situation bewertet. Wenn wir lernen, auf konstruktive Art und Weise unsere Gedanken und Gefühle zu regulieren, können wir eine positive Sicht auf die Dinge entwickeln. Dementsprechend konstruktiv ist dann auch unser Handeln. Oft sind wir zu streng mit uns selbst, haben überhöhte Ansprüche, nehmen die Dinge zu schwer, haben zu wenig Humor. Meistens sind es die negativen Emotionen, die eine Belastungssituation ausmachen und diese noch verstärken können.

Wen möchten Sie mit Ihrer Methode ansprechen?

Mit meiner Selbstmanagement-Methode möchte ich Menschen ansprechen, die sich der psychischen Erschöpfung nahe sehen oder bereits in der Burnout-Falle sitzen. Ich möchte ihnen helfen, aus dieser Situation herauszukommen und einen Weg nach vorne zu entwickeln. Meine Methode ist aus der Praxis hervorgegangen. Vor ein paar Jahren habe ich ein Selbstmanagementprogramm für Führungskräfte entwickelt und bei einem amerikanischen Unternehmen eingeführt. Der große Erfolg des Programms hat mich dann dazu ermutigt, die wesentlichen Inhalte des Programms einem größeren Interessentenkreis zugänglich zu machen.

Welche Bedeutung hat die Vermeidung von psychischer Erschöpfung?

Die Vermeidung von psychischer Erschöpfung ist mir sehr wichtig, natürlich für den Einzelnen, aber auch für Organisationen und Unternehmen. Es geht mir darum, dem Einzelnen zu helfen, Warnsignale zu erkennen und gegenzusteuern, wenn er oder sie in eine Erschöpfungsspirale gerät. Vorgesetzte sollten ebenfalls in der Lage sein, Warnsignale bei ihren Mitarbeitern zu erkennen. So lässt sich intervenieren, bevor es zum psychischen Zusammenbruch des Einzelnen und damit zum Ausfall von Mitarbeitenden kommt.

Was können Sie jedem von uns mit auf den Weg geben?

Ich habe bei dem Philosophen Friedrich Nietzsche ein schönes Bild für die Bedeutung von Gelassenheit und dem Guten im Leben gefunden. Er sagt: „Alle guten Dinge haben etwas Lässiges und liegen wie Kühe auf der Wiese.“ Hier klingt übrigens auch ein Ideal des Taoismus an, das als eine Art Leitmotiv für effektives Selbstmanagement gelten kann: Zu sich finden und gelassen das Leben hüten! Darauf kommt es aus meiner Sicht letztendlich an, und zwar beim Selbstmanagement wie im Leben.